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Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2018

Glut und Wut

50 Schriftstellerinnen aus 18 Ländern.
Sie reisen aus Wien, Kiew oder Regensburg an - sechs beispielhafte Stimmen, die bei Schamrock zu hören sind

Wer und was genau erwartet die Zuhörer beim Schamrock-Festival? Lyrikerinnen aus 18 Ländern werden diesmal nach München reisen. Stellvertretend für all diese Stimmen stellen wir sechs höchst unterschiedliche Dichterinnen vor, die am Wochenende zu hören sein werden.

Oksana Sabuschko

Ihre "Feldstudien über ukrainischen Sex" waren ein einziger Aufschrei - und wurden ein internationaler Erfolg. Was Oksana Sabuschko, die wohl bekannteste Schriftstellerin der Ukraine, im Jahr 1996 in einer furiosen Suada aufschrieb, hat bis heute nichts an Dringlichkeit verloren. Ihre "Feldstudien" arbeiteten nicht nur eine extrem gewalttätige Liebesbeziehung auf, sondern analysierten zugleich eine zutiefst verkorkste Gesellschaft. Denn in der von Konflikten und Kriegen zerrissenen Ukraine wurden stets die Männer "nach Strich und Faden von allen Seiten durchgefickt", und das machten oder machen sie dann eben auch mit ihren Frauen.

Nein, Sabuschko nimmt kein Blatt vor den Mund. Die in Kiew lebende Dichterin, 1960 geboren, analysiert immer wieder ätzend böse die Verhältnisse in ihrem Land, sei es wie zuletzt im Essay "Der lange Abschied von der Angst" oder in ihren Gedichten. Beim Schamrock-Festival wird von ihr unter anderem ein "Diptychon aus dem Jahr 2008" zu hören sein (Samstag, 14.30 Uhr); auch wenn es darin um den russisch-georgischen Krieg geht, ist die Bedrängnis, die daraus spricht, doch heute noch aktuell. "Istoria, du Schlampe", spricht das lyrische Ich darin zornig die Geschichte an, "wieder packst du mich an der Gurgel / wieder saugst du mir die Seele aus". Schlaflose Nächte, Panzer, über Plätze trampelnde Armeen lösen Wut aus: "Istoria, du Schlampe, sei verflucht", heißt es weiter. Doch die Resignation folgt sogleich: "Und sie kommen durch, sie kommen immer durch: / über die Leichen unserer Hoffnungen, / über die Asche unserer verbrannten Illusionen." 
Antje Weber

Anja Utler

"Man konnte die Sonne ich konnte die Sonne ja / kommen sehen sagt sie als sie alt ist die Tochter // hat wieder etwas zu tun keine weiß was das ist / sie rennt hin und her in dem Sandloch in das // kein Gras sich mehr setzen wird dort spielen die Mädchen / keine weiß was und sie sagt // Es hat gefaucht schon im Jahr vorher Da / bleibt die Tochter kurz stehen Und dann waren die drei // Jahre Sommer / (...)" .

26 Minuten dauert Anja Utlers Performance bei Schamrock (Freitag, 20. 30 Uhr). Und noch weiß man nicht, ob in ihrem neuen Lang-Gedicht "Kommen sehen. Das Loblied singen" der Text, wie gewohnt, brüchig und fragmentarisch bleibt, die Wörter nicht so wollen, wie sie sollen, die Grammatik zerstückelt ist, die Bedeutung erst während des Hörens entsteht. Utler, geboren 1973 in Schwandorf, bezeichnet sich als "Dichterin gesprochener und geschriebener Sprache". Sie galt von Anfang an als Ausnahmetalent der jüngeren Lyrikszene. Bereits mit dem zweiten Gedichtband "münden - entzüngeln" (2004) gelang ihr, ein Jahr nach dem Erhalt des Leonce-und-Lena-Preises, eine großartige poetische Arbeit. Inzwischen sind eine Fülle an Preisen und Stipendien gefolgt.

Auch thematisch setzt sich Utler mit Sprache, Äußerung und Lautentstehung auseinander oder denkt über die Verbindung von Sprache und menschlichem Körper nach. Die Doktorin der Philologie, die in Regensburg lebt, ist auch Übersetzerin, hat Slawistik, Anglistik und Sprecherziehung studiert. Derzeit hat sie die Thomas Kling-Poetikdozentur an der Universität Bonn inne. 
Sabine Reithmaier

Bela Chekurishvili

Apfelbäume, Erde, Heuschrecken oder ein alter Garten: Die Natur ist allgegenwärtig in Bela Chekurishvilis Gedichten. Nicht als Bedrohung, sondern als zart gezeichnete Beobachtungen, friedvoll und schön. "Wir, die Apfelbäume", "Das Glück namens Wiese", "Picknick am Berg" sind Gedichte überschrieben. Und doch geht es der 1974 in Georgien geborenen Dichterin nicht um eine Verklärung der Natur. Immer interessiert sie der Mensch darin, beschäftigt sie sich damit, wie sehr die Natur selbst Menschennatur ist, wie sehr ein Spiegelbild.

Das kommt nicht von ungefähr. Sich selbst bezeichnete Chekurishvili einmal als "Naturkind". Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf dem Land auf, war gewohnt, im Garten oder den Weinbergen zu helfen. Bereits in der Schule verfasste sie Gedichte und widmete sich später im Studium der Sprache und Literatur. Mit 17heiratete sie, mit 18 wurde sie Mutter, mit 20 war sie wieder geschieden - alles in einer Zeit, in der Georgien Bürgerkriegsland war. Auch dies Erfahrungen, die die Lyrikerin in ihre mal prosanahen, dann wieder dem Reim vertrauenden Gedichte einspeist. Schon zu Studienzeiten wurde ihre Lyrik in Georgien veröffentlicht. Auch in Deutschland erschienen zwei Bände, "Barfuß" heißt der jüngere (Freitag, 16 Uhr). Die Kindheit auf dem Land, Familie, Natur sind die Themen darin. Und auch die Liebe, wie im titelgebenden Gedicht, in dem es heißt: "Deine Turnschuhe, / meine Stiefeletten, / die jetzt gerne noch ein Stündchen hätten, / ohne darüber nachzudenken, ob es eigentlich geht zu zweit, / zumindest für eine begrenzte Zeit." 
Yvonne Poppek

Romana Ganzoni

Es trieft der helle Mond am Nachthimmel wie ein "Apfelschnitz / noch feucht / Getrennt von seiner Frucht", es halten sich die Engel wie Verliebte um Mitternacht, und schwer ist der Duft "Black Orchid", der nach "nächtlichem Gewitter und einem Löffel Zucker" riecht. Kitsch ist ein zentrales Thema in den Gedichten der Schweizer Schriftstellerin Romana Ganzoni (Sonntag, 14 Uhr). Was die meisten Lyriker tunlichst zu vermeiden suchen, nimmt sie als Grundlage - ein Spiel mit Vorurteilen und Lesererwartungen in Versen.

Die üppigen Materialien, die schweren Düfte, Puder, Nagellack, der Pelz; die ganzen theatralen Requisiten, von denen Ganzonis Gedichte erzählen, mimen die scheinbar floskelhaften Worte, reflektieren aber vor allem ihre eigene Künstlichkeit und poetische Überformung. Auf Rätoromanisch und Deutsch dichtet die Engadinerin über Weiblichkeit und Sinnlichkeit, Maskierung und Entblößung - und über die Sprache, die selbst immer schon Hülle und Verkleidung ist.

Romana Ganzoni wurde 1967 im idyllischen Bergdorf Scuol geboren. Kitschig-schön ist hier die Landschaft, doch die Kultur spielt in den Städten. Fürs Geschichts- und Germanistikstudium geht Ganzoni nach Zürich, später nach London - und kehrt zuletzt doch wieder zurück. Auch literarisch reist die Lyrikerin immer wieder an den Ort ihrer Kindheit - und setzt sich offensiv mit dessen Klischeebildern auseinander. Salomé Meier

Barbi Marković

"Keine von uns hatte jemals gelernt, ein normales, menschenwürdiges Leben zu führen. Überall waren wir von Mist und Misstrauen und Taubenscheiße umgeben. Alles war schrecklich. Viele waren verkatert. Die Welt war unbarmherzig." Diese Sätze läuten den Roman "Superheldinnen" von Barbi Marković ein - eine so trotzig-traurige wie irrwitzige Groteske über Emigrantinnen, die am Rand der österreichischen Gesellschaft ihr Glück suchen. Der Roman brachte der in Wien lebenden Serbin Barbi Marković 2017den letzten Chamisso-Förderpreis ein, im selben Jahr wurde sie zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen.

Zum Schamrock-Festival kommt die eigentlich mehr zur Prosa neigende Autorin nun mit eigens geschriebenen "Bluestexten" (Sonntag, 19.30 Uhr). Es sind jeweils nur wenige Zeilen, und aus ihnen spricht wirklich der Blues, wenn nicht eine handfeste Depression. Da ist es noch das Geringste, wenn Marković schreibt: "Ich ging zum Bahnhof. / Ich warf einen Blick auf die Tafel. / Der Zug war da. / Ich konnte mir die Reise nicht leisten." Die Flucht aus Armut und Tristesse spielt überhaupt eine große Rolle in ihrem Werk. Beim Aufbruch von Belgrad nach Wien mit dem Bus, so erfährt man in "Superheldinnen" von der Ich-Erzählerin, "blickte ich erschöpft zurück auf das, was ich hinter mir ließ, auf heruntergekommene Häuser und Frauen, die sich in zu enge Kleidung gezwängt hatten". Sie blickt zurück auf Menschen, die Gift spucken, und weiß doch: "An jenem Tag hatte ich die Hölle verlassen, aber die Hölle sollte mich niemals verlassen." 
Antje Weber

Anne Waldman

Die Aufgabe eines Künstlers im 21. Jahrhundert ist es, die Welt wachzurütteln. So zumindest sieht es die vielfach ausgezeichnete, US-amerikanische Dichterin und Performance-Künstlerin Anne Waldman. Bei der 1945 in New Jersey geborenen Autorin ist dieser Satz Teil des Programms. Waldman gehört wie Allen Ginsberg zu den Beat-Poeten. Spontaneität, der Drang zu Neuem und durchaus auch Unwägbaren prägte diese Autoren, der politische Gestus gehörte dazu.

Bei Waldman schlug sich dies im gesellschaftlichen Engagement nieder, aber auch in einer tiefen Auseinandersetzung mit Sprache: Sie war Mitgründerin des "Poetry Project" an der New Yorker "St. Mark's Church-in-the-Bowery" und rief mit Ginsberg die "Jack Kerouac School of Disembodied Poetics" an der Naropa University ins Leben. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk mit dem American Book Award ausgezeichnet. Es ist also keine Überraschung, dass Waldmann bei Schamrock einen Workshop gibt. Und sie liest aus ihrer assoziativ funktionierenden Lyrik, die sich keiner Vorgabe verpflichtet fühlt (Samstag, 20.30 Uhr). 
Yvonne Poppek

 

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