Sabina Lorenz

Ensō auf einem Balkon 
 

Im Morgengrauen sind die Straßen still zu Schemen gefaltet.

Wild verzweigte Narben in diesem Teil der Stadt, der Mittlere
Ring: hinauswuchernde Schnittkanten (man könnte auch sagen

herein-), als wär das die richtige Form, uns zu häuten.
In diesem Moment schweben Netze aus Zufällen. Pinselhaare,

zusammengeführt zu einem kalligraphischen Schwung.
Wie der Ruderflug eines Vogels mit der Möglichkeit,

ein Irrgast zu sein auf seinem Zug. Hier das Gepäck,
übersetzt ins Gestern: es ist immer zu schwer oder zu leicht.

Unten streiten sich die Taxifahrer. Eilen Schichtarbeiter
von der Arbeit, in die Arbeit, allseits wie jetzt

nur ein leichter Schlaf, der vergessen lässt, dass man schläft.

[Sind es die Straßen]

Doch sind es die Straßen, die erzählen, / oder sind es die Menschen, die den Straßen / erzählen, sind es die Schuhe der Menschen / auf den Straßen, die zählen, zählen die Straßen / die Schuhe der Menschen, oder zählen die Schuhe / die Straßen und die Menschen, die sie queren, / queren die Schuhe mit den Menschen die Geschichten / auf den Straßen, tragen die Schuhe der Menschen / die Geschichten der Straßen, wenn sie laufen, laufen / die Menschen mit den Geschichten der Straßen / an den Schuhen in die Häuser, wo sie leben, leben / die Geschichten der Straßen an den Schuhen in den Häusern / der Menschen, die dort wohnen, sind die Menschen / für die Häuser, wenn sie schlafen, oder / sind die Häuser und die Menschen für die Straßen / sind es die Straßen

Zwischen den Jahren

Und Rosen im Januar umschlingen
den aufsteigenden Frost am Spalier,
hinter Lamellen leuchtet es blau. Schon
schmiegt sich Samt unter deine Nägel.
Aus dem nervösen Pochen dieser Tage
tauchen beschlagene Brillengläser auf,
und Strophe um Strophe streifst du
durch schattenlose Stunden, sammelst
ein, was von gesetzten Zeichen übrig
bleibt, zu flechten die kommenden Tage.
Du schläfst in einer rostenden Wanne,
ich weiß, mittags dehnt sich der Ort.

Korona

Denk dir die Koordinaten eines Anfangs an Bahnhöfen, wenn
wir durchgehbar sind: die Farben des Flieders, und Apfelblühen
als Spiegel der Haut, immerfort dieser Ohrwurm ohne Titel,
hoffend auf Erlösung, hoffend, wenn der Ostwind unter Kleider
greift und Tropfen beugt zu Mondhöfen, als wären’s Möglichkeiten
des Trabanten, nicht 0, nicht 1, dazwischen ist auch ein Ort, so
fährt der Wind tags Tauben durchs Gefieder (sie kamen
zu zweit und brachten dann noch Freunde mit), als müsse er
ihnen Hagel aus den Flügeln wehen, Federn vom letzten Jahr,
kaum scheinbarer als die Schwerelosigkeit des einsetzenden
Regens, ein bisschen schmal und abgeschabt, Ergebnisse
einer Gussform aus dem Norden.

Mädesüß

Dabei war ich doch schon verschwunden
in dir, als wir es taten, taten wir es über
deines Vaters Schafen, was Herden genau
bedeuten wussten wir da noch nicht, die
Konsequenz unseres Begehrens, das Wort
mit L, das uns zu schwarzen Schafen machte,
zu weit weg, als wir uns vortasteten, du dich
in mir, ich mich in dir, weckte uns das Geblök,
so was von Freud,
(erinnerst du München, Berlin, Amsterdam
wo alles und jenes besser ist? Später
kaufte ich dir an den Raststätten Gruß-
karten, die schickte ich nie ab, das waren
nicht mehr wir)
wir waren die über den Schafen, und das
hätte auch ganz weich sein können, doch
wenn wir Otis Redding hörten, hörte ich
watching the sheeps roll in, und du seiest
ja auch gar nicht so, habest nur für Jungs
geübt und suchtest dies zu beweisen, so
rissen wir das Mädesüß raus aus den Feldern
deines Vaters, und wir heischten nach Beifall,
unsere Mütter heischten nach Beifall, dabei